BAC Bischöfliches Archiv Chur
Bistumsgeschichte ab 1816/19
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Streifzug durch die Churer Bistumsgeschichte II

von Dr. theol. Albert Fischer, Diözesanarchivar Nachdem Chur 1816 seine ausserschweizerischen Gebiete (Vorarlberg und Vinschgau) bis auf Liechtenstein verloren hatte - die in Österreich gelegenen Teile kamen 1808 provisorisch und 1816/18 endgültig an Brixen und Trient -, erhielt die geschrumpfte Diözese 1819 fast sämtliche Gebiete der “Schweizer Quart” des Bistums Konstanz, das 1821/27 aufgelöst wurde, zur Administration. Während der Stand Schwyz sich bereits 1824 definitiv dem Bistum Chur anschloss, führten Verhandlungen mit den übrigen Urkantonen nie zum Erfolg, so dass Uri (ohne Urserntal) sowie Ob- und Nidwalden, aber auch Zürich und Glarus bis heute nur provisorisch dem Churer Sprengel zugeordnet sind. Andere ehemals konstanzische Gebiete, also die Kantone Bern, Luzern, Zug und Solothurn, fielen 1828, Thurgau und Aargau 1830 an das ebenfalls neu umschriebene Bistum Basel. Nach der Aufhebung der Fürstabtei St. Gallen durch die Regierung von St. Gallen (1805) wurde 1823 von Rom ein Doppelbistum Chur - St. Gallen errichtet; in der Gallusstadt amtete ein eigener Generalvikar. Bis 1836 wurde das Gebiet der ehemaligen Fürstabtei, der Stadt St. Gallen und die dazu gehörenden Gemeinen Herrschaften in Personalunion mit Chur verwaltet, aufgrund wachsenden Widerstandes jedoch 1847 getrennt und St. Gallen zu einer selbständigen Diözese erhoben. 1867 trat schliesslich das Bistum Como die Pfarreien Brusio und Poschiavo an Chur ab, so dass seit 1869 der gesamte Kanton Graubünden dem Churer Bischof untersteht. Das heutige Churer Diözesangebiet umfasst mit den oben genannten Administrationsgebieten nach der Abtrennung Liechtensteins (1997 zum Erzbistum Vaduz erhoben) 12’272 Quadratkilometer mit insgesamt 307 Pfarreien (unterteilt in 3 Bistumsregionen [Graubünden, Urschweiz, Zürich- Glarus] mit 16 Dekanaten) [siehe unten]. Die politischen Umwälzungen am Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert haben Topographie und Struktur Europas Mitte grundlegend verändert. Den tiefsten Einschnitt in die politische wie auch kirchliche Geschichte stellt dabei zweifelsohne die Säkularisation von 1802/03 dar: auf die Mediatisierung aller geistlichen Territorien und geistlichen Reichstände sowie auf die Überführung nicht reichsunmittelbaren Kirchengutes in weltliche Hand folgte alsbald 1806 der Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Auswirkungen dieser radikalen Umwälzungen bekam auch die damalige Schweiz zu spüren: 1797 brach das Gebilde der Alten Eidgenossenschaft zusammen, die Helvetische Rebublik wurde ausgerufen, gefolgt von der 1803 in politischer, militärischer und wirtschaftlicher Hinsicht in Abhängigkeit zu Frankreich stehenden Mediation (bis 1813). Erst auf dem Wiener Kongress von 1814/15 erlangte die Eidgenossenschaft mit seinen inzwischen 22 Kantonen dauernde Neutralität. Wenngleich sich die durch die Totalsäkularisation initiierten Veränderungen nicht unmittelbar auf die kirchliche Territorialstruktur der Schweiz als Staatenbund auswirkten, waren als direkte Folge des Reichsdeputations- hauptschlusses von 1803 Auflösung des Mainzer Metropolitanverbandes, zu dem fast ein Jahrtausend lang auch die Bistümer Konstanz und Chur gehörten, Voraussetzungen geschaffen zur Aufsplitterung bzw. Neuzuteilung dieser beiden, in ihrer bisherigen Zirkumskription alten Kirchensprengel. Noch vor der Suppression des Bistums Konstanz 1821 erfolgte 1815 als «willkürlicher Gewaltsstreich» der Luzerner Nuntiatur die Abtrennung der Schweizer Quart und deren Unterstellung unter einen Apostolischen Vikar in der Person des damaligen Stiftspropstes von Beromüster (bis 1819). Nach dem Tod dieses Propstes schob die römische Kurie in der Hoffnung auf eine baldige definitive Lösung fast das ganze Gebiet der Schweizer Quart zur Administration dem Churer Bischof Karl Rudolf von Buol-Schauenstein (1794–1833) zu, der zuvor 1816 seine österreichischen Anteile im Vorarlberg (49 Pfarreien und 11 Kuratien) und Tirol (33 Pfarreien) mit insgesamt rund 75'000 Katholiken entgültig an die Diözese Brixen abtreten musste und dadurch in arge finanzielle Bedrängnis geraten war. Das riesige Territorium der Schweizer Quart wurde in den folgenden Jahren auf drei Bistümer Basel, Chur und St. Gallen aufgeteilt; doch bis in die Gegenwart hinein werden die heutigen Churer Bistumskantone Uri (ohne Ursern [immer zu Chur]), Ob- und Nidwalden, Glarus und Zürich lediglich administrativ von Chur verwaltet, was noch Bischof Georgius Schmid von Grüneck (1908–1932) zurecht als «Anomalie und Quelle vieler Übelstände» bezeichnet hatte. Im 19. Jahrhundert entschied sich allein der Kanton Schwyz für ein Definitivum und gehört seit 1824 fest zum Churer Diözesangebiet. Das 1823 geschaffene Doppelbistum Chur-St. Gallen hatte lediglich bis 1836 Bestand; seit 1847 bildet der Kanton St. Gallen ein eigenes Bistum, dem 1866 auch die Halbkantone Appenzell- Innerrhoden und -Ausserrhoden administrativ (von Chur) angegliedert wurden. Das Territorium des heutigen Kantons Schaffhausen blieb bis 1857 bei Chur, kam 1858 als Administrationsgebiet zum 1828 reorganisierten Bistum Basel, ist aber definitiv erst seit 1978 Teil der Basler Diözese. Das italienischsprachige Gebiet des Puschlav, historisch immer zum Bistum Como gehörig, aber seit 1803 Teil des Kantons Graubünden, wurde auf Beschluss der Bundes- versammlung 1859 kirchlich Chur zugeschlagen; die Ratifizierung dieser Eingliederung trat 1870 in Kraft. Eine (bislang) letzte Änderung in der kirchlichen Zirkumskription des Bistums Chur in seinen neuen, im 19. Jahrhundert gesetzten Grenzen, erfolgte am 2. Dezember 1997 mit der Erhebung des Fürstentums Liechtenstein zum Erzbistum Vaduz. Die 2016 bistumsweit durchgeführte Umfrage zu einem «Bistum Urschweiz» fand grossmehrheitlich vor allem seitens der innerschweizer Kantone keinen Anklang; eine entsprechende Umfrage zu einem «Bistum Zürich» verlief 2016 ergebnisoffen und hart auf weitere Konkretisierungen. Nach 200 Jahren Provisorium wäre die Schaffung eines Definitivums wohl an der Zeit. ---------------------------------------------------------------------------------------------------------- Zirkumskription des Bistums Chur seit 1816/19 Kerngebiete das Gebiet des heutigen Kantons Graubünden (seit 1870 auch das Puschlav [vorher zum Bistum Como]) • das Urserntal zwischen Oberalppass und Passhöhe der Furka • das Gebiet des seit 1719 bestehenden Fürstentums Liechtenstein (bis 1997, seit 1997 Erzbistum) das Gebiet des Kantons Schwyz (1819–1824 Administration, seit 1824 Teil des Bistums Chur) (zeitlich befristete) Administrationsgebiete • Kantonsgebiet Aargau (1819–1828, dann Teil des Bistums Basel) • Kantonsgebiet Luzern (1819–1828, dann Teil des Bistums Basel) • Kantonsgebiet Thurgau (1819–1838, dann Teil des Bistums Basel) • Kantonsgebiet Zug (1819–1828, dann Teil des Bistums Basel) Kantonsgebiet Schaffhausen (1819–1857, dann bis 1978 Administration durch Basel, seit 1978 Teil des Bistums Basel) Kantonsgebiet St. Gallen (1819–1823, 1823–1836/47 Doppelbistum Chur-St. Gallen, seit 1847 Bistum St. Gallen) Kantonsgebiet Appenzell-Innerrhoden und -Ausserrhoden (1819–1866, seit 1866 Administration durch das Bistum St. Gallen) (1819 bis heute andauernde) Churer Administrationsgebiete • Kantonsgebiet Uri (ohne Ursern) • Kantonsgebiete Obwalden und Nidwalden • Kantonsgebiet Glarus • Kantonsgebiet Zürich ---------------------------------------------------------------------------------------------------------- Auch wenn sich Bürgermeister und Rat des Standes Zürich 1819 klar gegen die Unterstellung des zürcherischen Gebietes unter die Obhut des Churer Bischofs stellten und sich daran prinzipiell bis in die Gegenwart nichts geändert hat, entstand nach der Gründung der ersten katholischen Gemeinde in Zürich 1807 rund um den Zürichsee in den letzten 150 Jahren ein blühendes katholisches Leben; aus der einstigen Diaspora erwuchs das Vorzeige-Modell «Katholisch- Zürich» mit heute insgesamt 24 Stadtpfarreien (eigenes Dekanat) und weiteren 3 Dekanaten mit total 70 Pfarreien, welche durch einen regionalen Generalvikar mit Sitz in Zürich (seit 1956) geleitet werden. Erst das vom Stimmvolk im Kanton Zürich angenommene Gesetz über das katholische Kirchenwesen 1963 ermöglichte die Besteuerung der natürlichen und juristischen Personen und somit eine rasche Besserung finanzieller Verhältnisse, die auch dem Ausbau der Seelsorge in ihren diversen Facetten zugutekam und kommt. Der Einbezug des Kantons Glarus mit heute 8 Pfarreien in die Bistumsregion «Zürich-Glarus» erfolgte 1999, nachdem im 19. Jahrhundert äusserst angespannte Zeiten in der Beziehung zwischen der Churer Bistumsleitung und dem Glarnerland zu bewältigen gewesen waren. Wie auf dem Gebiet der Bistumsregion «Zürich-Glarus», wo sich nach Loskoppelung aus dem Priesterkapitel «Zürich-Rapperswil» ein eigenes Priesterkapitel konstituierte und von 1877 bis 1978 Bestand hatte, bildete sich auch im Fürstentum Liechtenstein aus dem ehemaligen bischöflichen Landesvikariat das liechtensteinische Priesterkapitel (1850–1970). Im Anschluss an die Zustimmung durch Bischof Johannes Vonderach (1962–1990) zu den Richtlinien für die Neueinteilung der Dekanate im Bistum Chur wurde das Territorium auf den 1. Januar 1971 eigenständiges Dekanat und blieb es bis zur päpstlichen Erhebung Liechtensteins zu einem Erzbistum am 2. Dezember 1997, wodurch die jahrhundertealte Tradition der Zugehörigkeit zum Churer Sprengel abrupt beendet wurde. Wie schon oft in der Kirchengeschichte praktiziert, versuchte die römische Kurie ein Personalproblem durch eine «Verschiebung» elegant zu lösen; auch wenn diese Lösungsstrategie unbefriedigend blieb, ging 1997 nicht bloss ein blühendes Dekanat unter, sondern das Bistum Chur verlor unwiderbringlich eines seiner ganz alten, ins 5. Jahrhundert zurückreichenden Kerngebiete. ---------------------------------------------------------------------------------------------------------- Churer Bistumsregionen (seit 2000) mit 16 Dekanaten und 307 Pfarreien Bistumsregion Graubünden mit 119 Ortspfarreien Dekanat Chur (22 Pfarreien) Dekanat Surselva (37 Pfarreien) Dekanat Mesolcina-Calanca (19 Pfarreien) Dekanat Poschiavo-Bregaglia (7 Pfarreien) Dekanat Ob dem Schin-Davos (21 Pfarreien) Dekanat Engadin-Val Müstair (13 Pfarreien) Bistumsregion Urschweiz mit 84 Orts- und 1 Personalpfarrei Dekanat Uri (24 Pfarreien) Dekanat Innerschwyz (22 Pfarreien) Dekanat Ausserschwyz (17 Pfarreien) Dekanat Obwalden (11 Pfarreien) Dekanat Nidwalden (11 Pfarreien) Bistumsregion Zürich-Glarus mit 99 Orts- und 4 Personalpfarreien Dekanat Zürich-Stadt (25 Pfarreien) Dekanat Winterthur (28 Pfarreien) Dekanat Albis (22 Pfarreien) Dekanat Zürcher Oberland (20 Pfarreien) Dekanat Glarus (8 Pfarreien) ---------------------------------------------------------------------------------------------------------- Bekanntlich zeichnet sich die Schweiz durch eine weltweit gesehen wohl einmalige Vielfalt und Eigenheit im Verhältnis zwischen Kirche und Staat aus; auch die Bistumskantone der Diözese Chur kennen für Schweizer Verhältnisse typische Regelungen der Beziehung von Kirche und Staat. Seit der Bundesverfassung von 1874 verfügen die Kantone über die Kirchenhoheit (Landeskirchen); sie regeln das Verhältnis zwischen Kirche und Staat. In den sieben Kantonen bestehen neben der oben genannten Zahl der 307 Pfarreien als kirchenrechtliche Einrichtung und in der Regel territorial umschriebene Gemeinschaft von Gläubigen der römisch-katholischen Konfession zudem Kirchgemeinden als rein staatskirchenrechtliche Institution mit öffentlich- rechtlicher Anerkennung. Zusammen und in wechselseitiger Ergänzung, welche historisch meist nie ohne Konfliktstoffe geblieben ist, erfüllen Pfarrei und Kirchgemeinde die Aufgaben in Verwaltung und Seelsorge. Eine Bistumsgeschichte richtet neben dem Blick auf die Entwicklung der Zirkumskription und organisatorischen Ausformung auch den Fokus auf die Bischöfe und den Personenkreis, welchen die Bistumsleitung ausmacht(e) bzw. beeinflusst(e). Unter den 7 Churer Diözesanbischöfen im 19. Jahrhundert ragt der überhaupt letzte geistliche Reichsfürst des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation heraus: Karl Rudolf von Buol-Schauenstein, welcher zwischen 1824 und seinem Tod 1833 zugleich als erster Bischof des Doppelbistums Chur-St. Gallen amtete. Das unselige Konstrukt eines Doppelbistums verunmöglichte dem Nachfolger Buol-Schauensteins, Johann Georg Bossi (1835–1844), zeitweilig nicht nur die Residenznahme auf dem Hof, sondern seine Amtszeit war überschattet durch den Konflikt mit dem Kanton Glarus, dessen Kantonsverfassung die traditionelle Selbstverwaltung der katholischen Kirche im Tal aufhob, dem örtlichen Klerus den Eid auf die Verfassung aufzwang und darüber hinaus die Verbindung mit der Churer Bistumsleitung bis 1844 kappte. Auseinandersetzungen mit dem Staat hatte auch Kaspar de Carl ab Hohenbalken (1844–1859) zu durchstehen. Zankapfel war die konfessionsgemischte Kantonsschule in Chur, welche von Bischof und Bistumsleitung abgelehnt, der dortige Besuch durch die katholische Jugend über ein scharfes Hirtenwort verboten und letztlich zwecks Lösung des Konflikts das Kollegium Maria Hilf in Schwyz aus der Taufe gehoben wurde. Die Wahl des Nachfolgers von Bossi, Nikolaus Franz Florentinis (1859–1876), wurde wegen Unregelmässigkeiten von Rom als ungültig erklärt; der Papst ernannte aber den Gewählten in eigener Kompetenz dennoch zum Churer Bischof. Unter Florentini amteten verschiedene Verwandte des Bischofs in höherer Stellung in der Diözesankurie, was alsbald Konfliktpotenzial bildete und bei der Person von Paul Foffa als Verwalter sogar den Nuntius auf den Plan rief, um diese Person, welche u.a. historische Urkunden veräusserte, von Chur zu entfernen. Nach der fast vollständigen Erblindung Florentinis übernahm Weihbischof Kaspar Willi OSB (1868–1877), welcher auch auf dem Ersten Vatikanischen Konzil als Vertreter Churs weilte, für ledigkich zwei Jahre die Bistumsleitung (1877–1879). Ihm folgte der aus dem Puschlav stammende Franz Konstantin Rampa (1879–1888); unter seiner Regierungszeit wurden 1880 nach über 250 Jahren Seelsorge auf dem Hof die Kapuziner aus Chur abberufen und die Pastoral am Dom dem Churer Residentialkapitel anheimgestellt. Sein bischöflicher Kanzler, Johannes Fidelis Battaglia aus Parsonz, übernahm nach dem Tod Rampas, vom Domkapitel gewählt, die Bistumsleitung 1889 bis 1908. Geprägt war seine Amtszeit durch die wachsende Bedeutung des Diasporakatholizismus im Kanton Zürich und durch entsprechende Errichtungen neuer Pfarreien sowie sozialcaritativer Einrichtungen. Unter ihm erschien 1895 das diözesane Verlautbarungsblatt «Folia Officiosa», welches bis 1967 die wichtigsten Entscheide der Churer Bistumsleitung, Hirtenbriefe publizierte, Kirchen- und Kapellenweihen, Visitationen und alle personenbezogenen Stellenbesetzungen verzeichnete, noch heute ein hervorragendes Nachschlagewerk zur Klärung von Fragen zum kirchlichen Leben in Bistum und Pfarreien. 1908 resignierte Battaglia und verstarb als Titularbischof von Cyzicus (Kyzikos, Türkei) 1913 im St. Johannesstift in Zizers. Ab 1908 bis zur Gegenwart amteten weitere 7 Diözesanbischöfe; davon prägten Georgius Schmid von Grüneck aus Surrein den Beginn, Johannes Vonderach aus Spiringen als Teilnehmer am Zweiten Vatikanischen Konzil die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts. Das letzte Jahrzehnt war dann überschattet durch den allseitig kräfteraubenden Konflikt um die Amtseinsetzung und - führung Bischofs Wolfgang Haas (1990–1997), welcher nach seiner Ernennung zum Erzbischof von Vaduz noch bis 1998 als Apostolischer Administrator die Geschicke des Churer Bistums bestimmte. Obwohl zwischen 1998 und 2007 der frühere Einsiedler Benediktinerpater und Bischof von Lausanne-Genf- Fribourg, Amédée Grab (gest. am 19. Mai 2019 in Roveredo) , die Wogen im Bistum zu glätten verstand, fand letztlich keine wirkliche Beruhigung statt. Probleme, die angegangen hätten werden müssen, wurden allzu gerne verschoben oder dann nur halbherzig gelöst. Die von Grabs Nachfolger, Vitus Huonder (2007-2019), vielbeschworene «Erneuerung in Christus» wird sich, nachdem 2017 mit Huonders 75. Geburtstag dessen altersmässig abgelaufene Amtszeit durch Papst Franziskus um zwei Jahre verlängert worden ist, im historischen Rückblick erst noch weisen müssen. Gegenwärtig steht dem Bistum Chur in der Person des emeritierten Bischofs von Rykjavik, Peter Bürcher (2007-2015), ein vom Papst eingesetzter Apostolischer Administrator vor (seit dem 20. Mai 2019). Die im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil vermehrt geschaffenen und zeitweilig auch sehr aktiv gewordenen Beratungsgremien (diözesane Kommissionen und Räte) erlebten in jüngster Zeit mehr ein kümmerliches Dasein und wurden z. T. auch aufgehoben, was weniger ein Klima des Vertrauens und des Miteinanders im Dienste der ganzen Diözese zeichnet, sondern des Misstrauens und des Allein-Verantwortlichsein-Könnens von Mitraträgern. Nichts desto trotz gab und gibt es immer wieder Persönlichkeiten rund um die Churer Bischöfe, welche dank ihres kirchlichen Engagements, ihrer vielfältigen Begabungen und Talente prägend wirk(t)en: im 19. Jahrhundert etwa die bischöflichen Kanzler Georg Schlechtleutner (1776/77–1802) und Johann Josef Baal (1802–1838) oder der erste Regens des seit 1807 in Chur befindlichen Priesterseminars St. Luzi, Gottfried Purtscher (1801–1830), der erste bischöfliche Archivar und spätere Churer Domdekan Christian Modest Tuor (1877–1893 Archivar), im 20. Jahrhundert die Professoren, Regenten und Weihbischof-Koadjutor bzw. Verfasser der Churer Bistumsgeschichte (1907/14) Anton Gisler (1893–1932) und Johann Georg Mayer (1889–1912) sowie der unermüdliche «Bettelprälat» Franz Höfliger (gest. 1985). Auch die ersten regionalen Generalvikare für Zürich, Graubünden und Urschweiz, Alfred Teobaldi (1956–1969), Gion Giusep Pelican (1970–1989), Karl Scheuber (1970–1973), verdienen Anerkennung und Erwähnung. Eine seit altersher die Bistumsgeschichte prägende und beeinflussende Institution ist das Churer Domkapitel in seiner seit dem 17. Jahrhundert bestehenden Zusammensetzung von 6 residierenden und 18 nichtresidierenden Domherren. Das Gesamtkapitel verlor zwar nach dem Untergang des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation 1806 das aus dem Mittelalter den Domkapiteln eines Reichsfürstbistums zuerkannte freie Bischofswahlrecht (Wiener Konkordat von 1448), doch führten die Churer Kapitulare nach dem Tod Buol-Schauensteins (1833) das gewohnheitsmässige «freie» Wahl- verfahren bis 1941 fort. Erst 1943 verzichteten sie auf diese «freie» Direktwahl, und 1948 gewährte ihnen Rom durch das Dekret «Etsi salva» von 1948 das Privileg, bei Sedisvakanz des bischöflichen Stuhles aus einer von Rom vorgelegten Dreierliste einen Kandidaten zum neuen Bischof zu wählen. Dieser neue Wahlmodus wurde aber aufgrund der dazwischen liegenden Koadjutoren- ernennungen durch den Papst (Johannes Vonderach [1958] und Wolfgang Haas [1988]) erst 1998, also 50 Jahre nach Erlass, erstmals angewendet, ein zweites Mal dann 2007. Das Residentialkapitel übernahm zudem ab 1880 die Seelsorge am Dom, welche bislang während Jahrhunderten von den auf dem Hof wohnenden Kapuzinern abgedeckt worden war. Nach Anwachsen der Katholikenzahl in der Stadt Chur und aufgrund diverser Uneinigkeiten im Kapitel betreffend pastorale Aufgaben, welche die Präsenz und Arbeitskraft der Residentialen abverlangte, kam es 1948 zur Verselbständigung der Dompfarrei; diese wurde bis 2007 nicht mehr von einem Mitglied des 24-köpfigen Kapitels, sondern von einem anderen Diözesangeistlichen geführt. Auf Wunsch von Bischof Vitus Huonder verband man 2007 die Pfarrstelle wieder mit dem Amt des Domkustos. Eine weitere zentrale Institution mit pastoraler Breitenwirkung bis in unsere Zeit hinein ist das 1807 am Sitz des ehemaligen Prämonstartenserklosters St. Luzi in Chur eröffnete Priesterseminar. Nach einer schwierigen Zeit des Aufbaus unter Regens Gottfried Purtscher gelang die Stabilisierung und der Ausbau von zwei auf drei, unter Regens Thomas Anton Huonder (1880–1889) dann auf vier Jahre Theologiestudium. Zwischen 1875 und Ende des 19. Jahrhunderts durchliefen total 337 Alumnen St. Luzi. Ab 1944 galt eine Studiendauer von 5 Jahren. Der klerikale Nachwuchs erreichte im zweiten Dezennium des 20. Jahrhunderts seinen Kulminationspunkt (1918/19: 79 Studenten). Prägende Gestalten in der Aufgabe als Professoren und/oder Regenten hatten ab den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts die nicht leichte Aufgabe, bei sinkenden Zahlen von Alumnen das diözesane Priesterseminar in eine nachkonziliare Zeit hineinzuführen. Die römische Studienkongregation stärkte die Stellung des Ausbildungsplatzes Chur, indem sie 1968 die Theologische Hochschule Chur (THC) errichtete und ab 1973 der THC die Möglichkeit gewährte, den akademischen Grad des Lizentiats in Theologie zu verleihen. 1976 erreichte die Leitung der THC die staatliche Anerkennung der Abschlüsse durch den Kanton Graubünden. Ergänzt durch den zwischen 1975 und 1993 in Chur ansässigen Dritten Bildungsweg und durch das 2003 gegründete Pastoralinstitut bietet St. Luzi heute eine gute Basis in der Vorbereitung für Pastoral und Seelsorgearbeit; sie bietet Studentinnen und Studenten aber auch durch die ebenfalls seit 2003 bestehende Möglichkeit, das Doktorat in Theologie zu erlangen, eine Vertiefung in der philosophisch-theologischen Wissenschaft an. Der vorherrende Mangel an geweihten Seelsorgern öffnete nicht zuletzt den Weg, Laientheologen und Ständige Diakone als hauptamtliche Mitarbeiter/innen durch bischöfliche Missio in die Pastoral zu entsenden. Die «veränderten Rollen» im pastoralen Dienst fordern grundsätzlich von allen Laien wie Ordinierten immer eine persönliche Authentität, die innere Freude, von Jesus Chritus zu den Mitmenschen gesandt zu sein, die Frohe Botschaft zu verkünden und für diese Sendung eine unumgängliche theologisch-pastorale Kompetenzbildung. Hierin bemühen sich das Seminar St. Luzi und die THC in gemeinsamer Weise, quasi unter einem Dach vereint, und unter dem «Leitbild einer pastoralen Ausrichtung bei Wahrung der akademischen Qualität», ein für das Bistum Chur zentraler Ort mit Ausstrahlung für die Schulung des katholischen Glaubens zu sein. Auf der Basis einer nachkonziliaren Diözesansynode, Synode 72 genannt, versuchten Bistumsleitung, Diözesan- und Ordensklerus sowie Laienverteter aus den Gemeinden die auf dem Zweiten Vatikanischen Konzil angestossene Neuausrichtung der «Kirche als Volk Gottes gemeinsam unterwegs» und die damit verbundenen Reformen auf gesamtschweizerischer und auf diözesander Ebene anzugehen. Nach intensiver Planung und Ausarbeitung der zu behandelnden Themen (wie etwa «Kirche heute», «Ehe und Familie» oder «Ökumene») eröffnete Bischof Johannes Vonderach im November 1972 die Synode 72, welche in Sessionen bis November 1975 dauerte. Die Synode 72 war durchaus eine Manifestation der Kirche vor Ort nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil, doch die Langzweitwirkung blieb ebenso aus wie die zwischen 1994 und 2001 durchgeführte «freie» Tagsatzung der Bündner Katholikinnen und Katholiken in Ilanz, eine regionalsynodale Nachwirkung mit wenig Echo. Trotz der nach wie vor ausstehenden, vertieften Aufarbeitung der Konzilsbeschlüsse auf Diözesanebene darf bereits für die Jahre vor der Konzilseinberufung ein Wachstum katholischen Selbstbewusstseins verzeichnet werden; man spricht von den «goldenen Jahren» des Milieukatholizismus in den Grossstädten, so auch in Zürich. Unzählige katholische Vereine und Verbände bildeten eine wichtige Plattform für den Aufstieg der Laien in der Kirche. Gekoppelt war dieser «organisierte» Katholizismus mit der öffentlich- rechtlichen Anerkennung der Katholiken in protestantischem Umfeld. Später verlor der volkskirchlich geprägte Vereins- und Verbandskatholizismus wieder an Bedeutung, dafür entstanden eine fast unübersichtliche Vielfalt von neuen Bewegungen, Gruppen und Gemeinschaften mit religiösen oder sozialen Zielsetzungen. Das religiöse Leben in den Pfarreien und das praktizierte geistliche Leben in den Bewegungen mögen das kirchliche Leben im Bistum in gesunder Weise bereichern. Zu dieser Bereicherung zählen auch die vielfältigen Formen und Angebote katholischer Erwachsenenbildung für Laien, so etwas die «Theologischen Kurse für katholische Laien» (TKL), welche 1954 in Zürich entstanden sind und bis in die Gegenwart unter dem Namen «Interdiözesane Vereinigung theologiekurse.ch» ein bunte Palette von Veranstaltungen und Weiterbildungen (z. B. zweijähriger katholischer Glaubens- kurs) organisieren. Das Bedürfnis, Gottes Nähe und Fürsorge im Leben zu spüren, zeigt sich nicht zuletzt auch in der Entwicklung und im Wandel der (Volks-)Frömmigkeit anhand der Heiligenverehrung mit klarer christozentrischer wie marianischer Akzen- tuierung. Letztere scheint auch im Wallfahrtswesen auf; von den bedeutendsten Wallfahrtsorten in den drei Churer Bistumsregionen, wohin die Gläubigen privat oder in Gemeinschaft pilgern, liegt der Schwerpunkt zweifelsfrei auf einer bis heute ungebrochenen Marienverehrung. Das kirchliche Leben im Bistum Chur wird seit altersher auch geprägt und seit dem 19. Jahrhundert zudem neu bereichert durch Orden, Kongregationen und Missionsgesellschaften. Neben den traditionellen Klöstern monastischer Observanz (Benediktiner/innen, Dominikaner/innen und Franziskaner/innen) treten die Schwesternkongregationen, von denen die Ilanzer Dominikanerinnen und die Barmherzigen Schwestern vom heiligen Kreuz in Ingenbohl bis weit ins 20. Jahrhundert hinein in Schule, Erziehung und Krankenpflege prägend wirkten. Ganz im Dienste der Caritas und sozialen Gerechtigkeit stand der Gründer der Ingenbohler Niederlassung, Pater Theodosius Florentini (1808–1865). Der Kapuziner legte als Seelsorger am Dom den Grundstein zu seiner grossartigen Organisation der Caritas, die sich als Abspaltung von Menzingen als eigenständige Kongregation der Ingenbohler Schwestern etablierte, 1850 in der Stadt Chur. Florentini ging aber nicht nur als «Apostel der werktätigen Liebe» in die Churer Diözesangeschichte ein, sondern auch als möglicher Bischofskoadjutor in der Nachfolge de Carls, als risikofreudiger Fabrikant und als Generalvikar (1860–1865) unter seinem Verwandten und Bischof Franz Nikolaus Florentini. Auf dem theodosianischen Fundament entstand bald ein (über-)diözesanes Netzwerk von katholischen Vereinen und Verbänden, welche sich zu Caritasverbänden zusammenschlossen (1901 Gründung des Schweizerischen Cariatsverbandes, heute «Caritas Schweiz» mit Hauptsitz in Luzern). Die diözesan-regionalen Zentren gelangen im Fürstentum Liechtenstein 1924, gefolgt von Zürich 1926 durch Teobaldi; in Graubünden und in der Urschweiz erfolgten Caritas-Regionalstellen erst relativ spät, im Jahre 1977. Pater Theodosius war auch in den katholischen Schulstreit in Graubünden involviert. Nach dem Hin und Her der Verlegungen der katholischen höheren Schule von Chur nach Disentis und wieder zurück sowie den Anständen um Besetzungen der Lehrstühle, entschloss sich die Stadt Chur zu einem Neubau an der Halde und zu einem Zusammenschluss der evangelischen Schule am Kornpaltz mit der katholischen Schule bei St. Luzi, was auf das Schuljahr 1849/50 verwirklicht werden konnte. Dieser sinnvolle paritätische Zusammen- schluss aber rief den Churer Bischof auf den Plan, welcher in einem emotionalen Hirtenbrief vom 23. August 1850 die katholische Elternschaft ermahnte, ihre Kinder keinesweg an diese neue Institution zu schicken. Als «katholische Lösung» präsentierte alsbald Pater Theodosius Florentini 1856 die Gründung des Kollegiums Maria Hilf in Schwyz einer Lehranstalt mit Internat, welche sich bis 1972 als das katholische und qualitativ hochstehende Gymnasium der deutschsprachigen Schweiz etablierte und von den Bistümern Chur, Basel und St. Gallen getragen wurde. Neben «Maria Hilf» bilden bis heute auch die Gymnasien der Benediktiner- klöster Disentis, Einsiedeln und Engelberg die katholische Jugend aus, ferner gab und gibt es zum Teil bis heute Schulen der Kongregationen im Bistum. Für Zürich sind die freien katholischen Schulen eine wichtige Anlaufstelle, an denen schulisches Wissen und Glaube in offener Atmospähre vermittelt werden. In unmittelbarer Nachbarschaft des alten Churer Bischofssitz steht aber nicht nur das erste konfessionsneutrale Gymnasium, sondern am Sitz des Bischofs auf dem Hof zu Chur sind, die Konfessionsgrenzen weit sprengend, wahre Schätze an Kunst zu finden. Die wiederentdeckte frühmittelalterliche Grab- kammer St. Stephan bei St. Luzi, die seit dem 19. Jahrhundert nach dem verheerenden Hofbrand von 1811 immer wieder renovierte und erneuerte Kathedrale sowie der bischöfliche Palais selbst, in welchem in den nächsten Jahren ein neues Diözesanmuseum realisiert wird, sind Kulturgüter von schweizerischer und internationaler Bedeutung und erfreuen die Besucher. Nicht zuletzt das Bischöfliche Archiv Chur mit seinem wertvollen mittel- alterlichen Quellenbestand dient als Basis, das weite Spektrum des kirchlichreligiösen, kulturellen und institutionellen Lebens in einer von der Säkularisation 1803 verschont gebliebenen Diözese aufzuzeigen. Die Kirche im Bistum Chur steht im 21. Jahrhundert wie die Kirche in der Schweiz vor gewaltigen Herausforderungen und Aufgaben. Im Vordergrund allen Tuns aber steht sicherlich das Zusammenfinden zu einer friedvollen und starken Gemeinschaft des Zeugnisses und des Dienstes für die eine Kirche Jesu Christi; darin sind Laien wie Geistliche gleichermassen gefordert. Das Wissen aus der Geschichte der Churer Diözese seit dem 19. Jahrhundert macht dazu Mut, denn es verdeutlicht, dass in kleinen gemeinsamen Schritten Grosses möglich wird.
Neuzirkumskription im 19. Jahrhundert Auf- und Ausbau des katholischen Lebens im Kanton Zürich Verhältnis von Kirche und Staat Churer Bischöfe und Bistumsleitung Churer Domkapitel und Seelsorge am Dom Theologische Ausbildung und Ausformung der Pastoral Nachkonziliare Aufarbeitung im Bistum: Synode 72 Katholisches Selbstbewusstsein und Glaubensleben Aufblühen und Wirken von Kongregationen Katholische Schulbildung und Erziehung Kunst und Kultur am Churer Bischofssitz Albert Fischer, Das Bistum Chur, Band 2, Konstanz 2019
Albert Fischer Das Bistum Chur Band 2: Seine Geschichte von 1816/19 bis zur Gegenwart 646 Seiten, mit 417 Abbildungen Konstanz-München 2019 Preis: 59.– Euro ISBN 978-3-86764-868-4 Zu beziehen beim UVK-Verlag oder in jeder Buchhandlung.
Alfred Teobaldi (1897-1977)
Johann Georg Mayer (1889-1912)